Raketenflugplatz-Berlin
2) Dynamisch stabiler Flug
Die Rakete (oder Teile von ihr) rotieren schnell und nach
Verlassen eines Leitgestells wird diese Fluglage und Richtung
durch die Kreiselstabilität beibehalten. Das Prinzip ist von der
rotierenden Granate der Artillerie kopiert.
3) Extern gesteuerter Flug
Eine außerhalb der Rakete befindliche Kontrollinstanz, meist ein
Richtschütze, übermittelt Steuerkommandos an das Geschoss.
Diese werden durch Organe wie Luft- oder Strahlruder oder
Lagekontrolldüsen ausgeführt.
4) Intern gesteuerter Flug
Mit der Rakete fliegt eine Kontrollinstanz, welche die tatsäch-
liche Fluglage, Geschwindigkeit und Richtung (oder einzelne
Elemente davon) mit einem vorgegebenen Kurs vergleicht und
bei Abweichungen über Steuerorgane, wie Luft-oder Strahlruder
oder Lagekontrolldüsen Korrekturen vornimmt.
Bei allen diesen Arten der Flugsteuerung gibt es Zwischen-
stufen und Kombinationen.
Beginn ohne Steuerung
Den ersten Raketen der frühen Pioniere in allen Ländern ist
eines gemeinsam: Sie verfügen über keine aktive Flugsteue-
rung und bei den Raketen von Goddard und Winkler nicht
einmal über eine aerodynamische Formgebung.
Hermann Oberths UfA-Rakete zeigt schon eine sehr hervor-
ragende aerodynamische Auslegung, sie wäre sicher pfeilstabil
geflogen. Es ist auch der erste Raketenentwurf, von dem eine
Art aerodynamischer Erprobung bekannt ist. Eine Holzattrappe
der UfA-Rakete wurde mehrfach von einem hohen Schornstein
abgeworfen und am Fallschirm geborgen.
Den Pionieren des Raketenflugplatz war die theoretische
Notwendigkeit bewusst, dass fortschrittliche Raketen über ein
Flug-Kontrol-System verfügen mussten. Sie sinnierten über
kreiselgestützte Steuerungen und Zielfindung durch Fotozellen.
Die Versuche mit einem Kreisel für den “Achsenstaber” wurden
erfolglos 1931 eingestellt. Helmut Zoike vom Raketenflugplatz
entwarf und baute 1932/33 eine eigene Rakete, die später
zwischen den langen Heckflossen eine kreiselstabilisierte Strahl-
Lenkung erhalten sollte, aber nie geflogen ist.
Flug-Stabilität
die unterschätzte Voraussetzung
Auf Hermann Oberth geht die Idee zurück, wenn man das
Triebwerk am Kopfende einer Rakete anbringt, wird sich der
Raketenkörper von selbst nach einer Auslenkung wieder auf
eine senkrechte Flugbahn einstellen. Der Austrittspunkt der
Verbrennungsgase am Triebwerksende wird hierbei gewisser-
maßen als “Aufhängepunkt” der Rakete angesehen, um den sie
sich durch die Schwerkraft wieder senkrecht einpendeln kann.
Von Oberth hat sein Assistent aus den Tagen der UfA-Rakete,
Rudolf Nebel, den Kopfbrenner als gültige Entwurfsauslegung
für den Raketenflugplatz Berlin übernommen. Man glaubte, für
senkrecht aufsteigende Höhenforschungsraketen könne des-
wegen auf ein kompliziertes Flug-Kontrol-System verzichtet
werden.
Bei den ersten auf dem Raketenflugplatz getesteten Flugkör-
pern, den Kopfbrennern “Repulsor” und “Achsenstaber”
befanden sich am Heck noch kleine Stabilisierungsflächen. Da
viel zu klein und so ohnehin wirkungslos, ließ man diese
Flächen bei späteren Raketen ganz weg.
Nebels mangelnde Fähigkeit, Fehlschläge analytisch zu
betrachten, war mit einer der entscheidenden Gründe, warum
den Pionieren vom Raketenflugplatz letztlich der durchschla-
gende Erfolg versagt blieb.
Nach großsprecherischen Ankündigungen über die Leistungen
seiner Raketen, zog Nebel als Erklärung für die oft wild
Loopingschlagenden und nur geringe Höhen erreichenden
Geschosse, Erklärungen wie: “Ventilversagen, gesprungene
Scheibe am Manometer, klemmende Führungsrolle” und
Ähnliches heran.
Raketen zu entwickeln ist ein schwieriges Geschäft, dazu muss
man die Fähigkeit haben, aus den Fehlschlägen Schlüsse zu
ziehen. Diese Geduld hat Nebel nie aufgebracht.
Schwierige Flugsteuerung
Raketen können auf verschiedene Arten dazu gebracht werden,
einen Zielpunkt zu erreichen:
1) Aerodynamisch stabiler Flug
Das Geschoss wird während der Startphase durch ein
Leitgestell auf Kurs gehalten. Am Ende des Gestells sollte die
Rakete so schnell sein, dass die aerodynamischen Kräfte es
weiter auf Kurs halten. Dies geschieht durch Pfeilstabilität. So
fliegen zum Beispiel Feuerwerksraketen.
Der Flug des Vierstabers von der Insel Lindwerder im Berliner Tegeler See (”Liebesinsel”) am 21. Juli 1933, gezeichnet nach
Standbildern des als Video vorliegenden Schmalfilmes von Rudolf Nebel.
Das Gefährt rotiert um alle drei Achsen, zeigt in Gipfelnähe erst mit dem Kopf zum Betrachter, um dann mit dem Heck zum
Betrachter horizontal auf dem Wasser aufzuschlagen.
Der “Vierstaber” vor dem Start von der Insel Lindwerder in
Berlin. Es ist eine flugfähige Version des stationären
Testaufbaus des 200-kp-Triebwerks vom Raketenflugplatz.
Hermann
Oberth
Kegeldüse
Ufa-Rakete
Magdeburg
Projekt
Pfeilstabilität
Ein Pfeil fliegt stabil durch die Luft, da an der Spitze eine
schwere Masse sitzt und am hinteren Ende Federn einen
erhöhten Luftwiderstand erzeugen.
Der Schwerpunkt Pm (der Angriffspunkt aller Massenkräfte)
des Pfeiles befindet sich, in Flugrichtung, vor dem
Angriffspunkt Pa aller aerodynamischen Kräfte. Je weiter
die beiden Punkte von einander entfernt sind, desto stabiler
fliegt der Pfeil, er richtet sich bei einer Abweichung selbst
wieder in Flugrichtung aus (Abbildung 1 + 2).
Genau so fliegen Feuerwerksraketen. Der schwere Kopf
legt den Schwerpunkt weit nach vorne, der lange (und
Der Flug des Vierstabers von Lindwerder 21.7.1933
Bei dem vorangegangenen Start von Lindwerder am
14.7.1933, bei dem 500 m Höhe erreicht worden seien
sollen, ist der Vierstaber nach mehreren Loopings ins
Wasser gestürzt. Grund für die unkontrollierten Flug-
bewegungen laut Nebel “ein Sauerstoffventil hatte sich
nicht geöffnet”.
Triebwerk:
250 kp (nominell)
150 - 200 kp (real)
Höhe:
2,50 m (circa)
Leergewicht:
70 kg (circa)
Startgewicht:
100 kg (circa)
Treibstoff:
Flüssigsauerstoff +
Alkohol
50 l (circa)
Förderung:
CO2 Druckgas
Flugdauer:
4 sec (circa)
Gipfelhöhe:
25 - 30 m
Flugweite:
20 m (circa)
Nebel behauptete, es seien 60 m Höhe erreicht worden
und ein verklemmtes Alkoholventil sei Ursache des Flug-
verhaltens gewesen.
leichte) Stab zieht den Luftwiderstandspunkt nach hinten.
Im Seitenwind legen sich pfeilstabile Flugkörper immer
gegen die Windrichtung.
Bei Raketen mit großen Flossen am Heck tritt die gleiche
Wirkung auf, Oberths UfA-Rakete und das Aggregat 4 sind
pfeilstabile Raketen (Abb. 3).
Bei Kopfbrennern liegen die schweren, gefüllten Tanks
hinten und vorne ragt das leichtere Triebwerk heraus. Sie
ähneln, vereinfacht gesprochen, einem Pfeil, den man mit
der Spitze nach hinten abschießt - er wird instabil fliegen.
Das typische Loopingschlagen ist eine Konsequenz aus
der Konstruktion der Kopfbrenner (Abb 4 + 5).
Werbung aus einem Fachbuch aus dem Jahre 1936 für den Siemens “Autopilot”.
Aber zuerst konzentrierte man sich auf dem Raketenflugplatz
auf die Entwicklung von Triebwerken. Dort konnten, aufbauend
auf Oberths Arbeiten, relativ schnell Erfolge erzielt werden.
Eine Fluglageregelung ist dagegen kompliziert, teuer und
erfordert hohe technische Kenntnisse und Fertigkeiten. Dies
hätte, selbst wenn man es ernsthaft versucht hätte, die
Kapazität des Raketenflugplatzes schnell überstiegen.
Einigen Mitgliedern des Raketenflugplatz war dieser Mangel
durchaus bewußt. Nach der Auflösung des Raketenflugplatz
ging Klaus Riedel und weitere Pioniere zum Siemens-
Luftfahrtgerätewerk, um dort an einer kreiselgestützten
Plattform zur Flugzeugsteuerung zu arbeiten (”Autopilot”). Von
Siemens stammt dann auch die welterste bei Flüssigkeits-
raketen eingesetzte (für das A3 und A5) 3-Achs-Plattform.
Uwe W. Jack