Karl Justrow, Oberst a.D. 1956 dazu: Schon 1917/18 waren Becker als Referent für Ballistik und ich als Referent für Geschosse, Bomben und Sprengstoffe über die seitens der Marine in Meppen und in der Elbe-Mündung durchgeführten Versuche mit dem Parisgeschütz (125 km Schussweite) unterrichtet worden, und wir hatten aus diesem ersten Vorstoß in den luftleeren Raum die Überzeugung gewonnen, dass sowohl die Raketen als auch mit Artilleriegeschossen noch größere Schussweiten als bisher zu erzielen waren, wenn die Projektile ihre Bahnen in höheren Luftschichten zogen. Sofort nach Schluss des ersten Weltkrieges erörterten wir das Problem mit dem Stratosphärenballistiker der Fa. Krupp, Prof. Eberhard und den Munitionsreferenten der Marine in Meppen und wollten schon damals mit Raketenversuchen auf neuer Antriebsbasis beginnen, da mit dem auf der Pulververbrennung beruhenden Antrieb keine genügenden Erfolge zu erzielen waren. Da jedoch die erforderlichen Mittel für diese langwierigen Versuche zunächst nicht zur Verfügung standen und letztere durch den gerade geschlossenen Versailler Vertrag verboten waren, beschränkte ich mich auf eine systematische Ermittlung größerer artilleristischer Leistungen durch entsprechende Formgebung, Gewichtserleichterung, Gewichtsverteilung der Geschosse der uns belassenen Geschütze. Das erste Ergebnis war die Einführung der "F.H.Gr." Mitte der 20iger Jahre. Warum nahm das Heereswaffenamt die Raketenentwicklung in eigener Hand? Walter Dornberger aus seiner Denkschrift zur Raketenentwicklung 1943: Durch den Versailler Vertrag war Deutschlands Rüstung beschränkt. Es durften nur bestimmte, festgesetzte Waffen bei bestimmten Firmen gefertigt werden. Die internationale Verflechtung der Großindustrie war so ausgebaut, dass es in vielen Fällen kaum möglich war, irgendeine ge-heime Waffenentwicklung zu betreiben, ohne dass durch diese Beziehungen, durch Patente oder Literatur das Ausland Kenntnis davon bekam. Das Heereswaffenamt war trotzdem ständig auf der Suche nach neuen, die Bestimmungen umgehenden Waffenentwicklungen. Als um die 30iger Jahre die Raketenliteratur wieder auflebte und Versuche die angebliche Brauchbarkeit der Rakete bewiesen, griff das Heereswaffenamt, besonders die ballistische- und Munitionsabteilung unter dem späteren General der Artillerie Becker, zusammen mit der späteren Forschungsabteilung diesen Gedanken auf. Nach Vortrag beim Reichswehrminister wurde Ende 1929 entschieden. Versuche einzuleiten, um die Möglichkeit einer Verwendung des Strahlantriebes für Kriegszwecke zu untersuchen. Aus alten Akten und der Literatur wurde bei dem im Jahre 1864 zuletzt unternommenen Pulverraketen-Versuchen angefangen. Es gab damals keine deutsche Raketenindustrie, d. h. keine Firma, die unter Verwendung des Strahlantriebes eine komplette Waffe oder Munition in eigenem Betrieb herstellen konnte. Fast während 10 Jahre mussten alle Einzelteile bei verschiedenen Firmen entwickelt und an dritter Stelle zusammengesetzt werden. Es hat jahrelang Arbeit und Mühe der Fachabteilung des Heereswaffenamtes (Wa Prüf 11) gekostet, um die Bildung einer deutschen Pulverraketen- Industrie durch Zusammenschluss interessierter Fachfirmen zu erzielen und so die Weiterentwicklung fruchtbringender auf breitere Basis zu stellen. Das einzige Werk, das 1929 Pulverraketen herstellte, war die Fabrik Fr. W. Sander in Wesermünde. Mit dieser wurde von dem ballistischen Referat, seinerzeit Hauptmann v. Horstig, Verbindung aufgenommen. Es musste festgestellt werden, dass keinerlei wissenschaftliche Unterlagen über Leistung, Temperaturabhängigkeit sowie über Schussergebnisse vorlagen. Die Schussweite reichte bei weitem nicht aus, wenn man die bisher hergestellte Pulverrakete als Unterlage für eine Waffe verwenden wollte. Sander stellte sich sofort in den Dienst der Sache. Ausgehend von seinen 2,7 und 9 cm Raketen wurden mit ihm die ersten für Schießzwecke verwendeten Schwarzpulverraketen entwickelt. Die Tätigkeit des Heereswaffenamtes erstreckte sich in den ersten Jahren der Entwicklung auf die Stellung von Forderungen, Aufstellung konstruktiver Vorschläge und die Prüfung der gelieferten Raketen. Hierzu wurde in Kummersdorf von Hauptmann v. Horstig, dem ich im Frühjahr 1930 als Hilfsreferent zugeteilt wurde, der erste größere Raketenprüfstand gebaut, mit dem Raketen bis zu 21 cm Kaliber geprüft werden konnten. Hier begann ein eingehendes Studium der Eigenschaften und der Leistungsfähigkeit von Raketentreibsätzen. Die Kapazität der Firma Sander genügte nicht. Um die Entwicklung auf breite Basis zu stellen, wurde auch die Schwarzpulverfabrik Hamm der Dynamit AG, vorm. Alfred Nobel, unter der Leitung des hervorragenden Fachmannes Dir. Hölz zur Mitarbeit herangezogen. Mit Raketen von R. Tiling, der im Gegensatz zu allen anderen stabilisierte Stufenraketen baute, wurden Versuche gemacht, die jedoch wegen ungenügender Lagerbeständigkeit und zu großer Streuung nach jahrelangen Versuchen wieder eingestellt werden mussten. Es war also in den ersten Jahren der Entwicklung alle Schwarzpulverfabriken Deutschlands für die Entwicklung der Pulverrakete eingesetzt. Parallel dazu liefen Versuche, rauchloses Pulver als Treibpulver zu verwenden. Die Versuche musste jedoch bald nach Ansicht der Industrie als aussichtslos aufgegeben werden. Bemüht hat sich hier besonders die Firma Wasag und Dynamit AG, vorm. Alfred Nobel. Vom Parisgeschütz zum Raketenprogramm der Reichswehr 1918 - Einsatz des Paris-Ferngeschützes In der Zeit vom 23. März bis 09. August 1918 wurde Paris aus einer Entfernung von 120 km mit insgesamt 303 Geschossen Kaliber 21 cm unter Beschuss genommen. Die größte Schussweite wurde bei etwa 50° Rohrerhöhung erreicht, der Scheitelpunkt der Flugbahn lag bei 40 km über der Erde - eine Höhe, in der der Luftdruck fast 0 ist (Diese Höhe wurde erst mit dem Start der A4 Rakete am 3.10.1942 überboten).